Skandinavien 2016 – Rückblick

Ich sitze in der Bar der Finnland-Fähre und versuche, möglichst wenig Geld auszugeben, denn die Preise sind heftig. Und eine echte Alternative zum Massenabspeise-Restaurant für vorher zu zahlende 34 € gibt es nicht. Gut, dass ich meinen Speisekasten schnell noch vor dem Ablegen der Fähre vom Fahrrad auf dem Fahrzeugdeck geholt habe. Bis zum Brunch morgen wird es reichen. Den gibt’s für 23 € und es ist ein Buffet, na wartet!

Jetzt hab ich also einen neuen Rekord eingestellt, indem ich 2181 km in 24 Tagen gefahren bin (auch deshalb, weil es mal wieder knapp 10% weiter war, als von Google vorher berechnet). Ja, die Versuchung war da, besonders am Ende bei den heftigen Gegenwindböen, einfach mal den Zug zu nehmen. Aber irgendetwas hat mich davon abgehalten, obwohl ich in Lahti schon auf dem Bahnhof war. Kleinigkeiten, ich ließ es an dem unübersichtlichen Bahnsteigzugang scheitern (ich bin ja mit all dem Kram so was wie „behindert“). Meine innere Stimme sagte: „Es sind doch nur 72 km nach Riihimäki und du hast dafür noch mindestens 7 Stunden Zeit, selbst mit nur 10 km/h …..“ Und schon fuhr ich. Wenn die Böen zu heftig wurden, blieb ich einfach einen Moment stehen. Und mein Mr.Garmin, der sorgfältig aufgrund seiner Einstellungen alle Radwege aneinander reiht, auch solche, die es gar nicht mehr gibt, sorgte gleich am Anfang dafür, dass mindestens 5 km Umweg dazu kamen. Ich lernte also, mich mit dem Wind zu arrangieren. If you can´t fight it, friend it, schrieb ich auf facebook. Lerne, mit den Dingen zu sein, die du nicht ändern kannst. Das ist sowieso eine meiner Dauerlernaufgaben als chronisch ungeduldiger Mann. Wehe, die Dinge kommen anders als von mir gewünscht oder geplant! Hah! Was kann ich mich da ärgern!
Ja und insofern … hatte es diese Reise in sich. Was konnte mir aus der Perspektive des erfolgreichen Kanadadurchquerers in dem bisschen Nordeuropa schon passieren? Weder drohten Hochgebirgspässe noch Präriesteppen. Aber … alles Ontario, oder was? Ja, so kam ich mir an manchen Tagen vor, wie in Ontario mit der Dauerabfolge von Wald, Felsen, Seen, Steigungen. Nur das Wild fehlte. Ich sah auf der ganzen Reise nur einen einzigen Rotfuchs (abgesehen von den unüberhörbaren Mitgliedern der weltumspannenden Krähen- und Lachmövenpopulation). Ach ja, nicht einmal die berüchtigten finnischen Mücken tauchten in bedrohlicher Zahl auf! Dafür Blaubeeren, Preiselbeeren, Himbeeren und anfangs auch meine so geschätzten Walderdbeeren, die auf schwedisch Smultron heißen, zum satt Essen – wenn ich nicht für langes Pflücken zu ungeduldig wäre…

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Wo waren all die Elche? Wölfe? Und die theoretisch dort lebenden Bären? Die Stille der Wälder war jedoch beeindruckend. Manchmal hielt ich an, nur um zu lauschen und hörte nichts als den Wind in den Baumwipfeln. Ich lernte von meinem Gastgeber in Sundsvall, einem Forstmanager, dass die meisten Wälder dort erst die zweite Waldgeneration sind, weil die Menschen die alten Urwälder als Folge der beginnenden Industrialisierung erst einmal verheizt hatten, bevor sie im 19.Jahrhundert merkten, dass das so auf Dauer nicht weitergeht. Auch deswegen, also wegen der fehlenden Totholzmenge, aber auch weil witterungsbedingt immer alles feucht und grün ist, kennt man in Skandinavien kaum Waldbrände und war, als diese vor einigen Jahren dennoch mal ausbrachen, völlig mit dem Löschen überfordert. Man musste Hilfe aus Frankreich und Portugal holen, erzählte Herr Ek, und wie peinlich das für die Schweden gewesen sei. Tatsächlich gibt es nirgends Waldbrandwarnschilder und Feuer machen darf man auch überall. Trotz allem wirkten die Wälder unterwegs nicht ganz so eintönig wie unsere „Wald“ genannten Nutzholzplantagen.

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Und so anstrengend es wegen der häufig deftigen Steigungen auch oft war, ist diese Landschaft auf der anderen Seite auch irgendwie beruhigend. Endloser Wald, erst nach langer Zeit einige Häuser mit Ackerland drum herum. Dorf kann man das oft nicht nennen, auch wenn es ein Ortseingangsschild gibt. Und immer wieder auch solche Häuser, die nur noch als Landschaftsdekoration oder „Heile Welt-Illusion“ da zu stehen scheinen: Schaut man genauer hin, dann sieht man wie das Gras auf den Stufen wächst, die Fenster vom Gebüsch langsam verdeckt werden, gleichwohl hängen da noch Gardinen und Kunstblumen hinter den Fenstern täuschen Leben vor, das einmal war, oft schon vor Jahren. Neugierig wie ich bin, habe ich, wenn ich mich sicher fühlte nicht beobachtet zu werden, in das eine oder andere Haus hinein geschlichen. Da war dann nicht einmal die Tür verschlossen! Teilweise standen die Möbel noch da. Eine noch komplett eingerichtete Küche!

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…und in der Küche der Tisch mit der Spitzendecke

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Einladend …

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…die Tür nicht verschlossen …

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…dann eine komplett eingerichtete Küche.

Mit Bosch-Waschmaschine und Kühlschrank. Einfach Strom einschalten, saubermachen und aufräumen, weiter geht´s. Ein Bad mit Wanne und Duschgel.  Aber seit Langem war niemand mehr da. Ein Fenster zerbrochen, ein schief hängendes Familienfoto an der Wand. Aller möglicher Krempel lag wüst umher, aber nichts zerschlagen oder mutwillig zerstört. Vandalismus unbekannt. In Finnland dasselbe. Ein Haus war so zugewachsen, dass es mindestens seit 5 Jahren niemand betreten hat (Bild oben). Ich schaute durch das Küchenfenster. Ein alter Herd, Geschirr und ein Tisch, bedeckt mit einer weißen Spitzendecke. Irgendwie bizarr, als brächte gleich jemand den Kaffee…

Das ist es, was ich am Radreisen schätze: Dinge, die man als Autofahrer gar nicht mitkriegen würde zu sehen und genauer zu betrachten, sich die Geschichten dahinter zu phantasieren. Sind die Hausbesitzer plötzlich verstorben? Liegt jemand seit Jahren im Koma? Oder sind die Bewohner einfach nur ausgewandert und haben alles stehen und liegen gelassen? Meine fast mitten im Wald lebende finnische Gastgeberin erzählte auch, dass in der Nachbarschaft ein Haus wäre, dessen Besitzer auch seit Jahren nicht da gewesen wären. Keiner wüsste warum. Alles haben sie stehen und liegen gelassen. Also, falls jemand ein fertig eingerichtetes Haus sucht (vielleicht inzwischen etwas modrig) – in Skandinavien wird man fündig.

Es ist schon seltsam. Unterwegs stöhne ich oft über das, was ich mir mit so einer Tour eingebrockt habe. Mit fast 30 kg Gepäck (schließt man Lebensmittel und Wasser mit ein) durch fremde Länder radeln um zu spüren, wie unfit ich oft bin? (Womit ich dann natürlich beim unsinnigen Vergleichen lande.) Warum tue ich mir das an? Oder wie lange noch? Mir fällt einfach nichts Besseres ein, was ich allein tun könnte und was meinem Drang nach Bewegung und Abwechslung in freier Natur nahe kommt.

Nachtrag 1, Himmel:

Der Himmel über Finnland war besonders kontrastreich. Spätestens gegen Mittag begannen sich Wolkenberge aufzutürmen und führten meinerseits zum furchtsamen Abschätzen der Zugrichtung. Dahinten schauert es … dort scheint noch die Sonne … trifft mich der Regen gleich oder habe ich Glück? Offene Scheunentore oder Bushaltestellen versprachen notfalls Unterschlupf.

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Nach dem Schauer ist vor dem Schauer.

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Abends in Haapavesi

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Musikhalle Helsinki

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Geschafft – in der Regenrettungsscheune

Über Helsinki war es besonders eindrucksvoll: Im Süden über der See ein riesiges Wolkengebirge reglos lauernd vor der Stadt, die im gleißenden Sonnenlicht badete, bis hinterrücks im Norden ein weiterer Wolkenturm schwarz sein schauerreiches Unheil verbreitete und sich heftig zu entladen begann.

Nachtrag 2, Verkehr:

In Skandinavien ist der Mensch scheinbar rücksichtsvoller als anderswo. So sind Rad- und Fußwege in der Regel vereint, offenbar funktioniert das auch ohne Streit um Vorrechte. Und daher gelten Zebrastreifen im Gegensatz zu Deutschland auch für die Radfahrer. Hat es auch nur den Anschein, dass man sich einem Zebrastreifen nähert – schon bremst der Autofahrer und wartet respektvoll, dass man nun auch wirklich passiert und nicht erst orientierungslos lange herumsteht. Und das bei einer gefühlt 10-mal höheren Anzahl dieser Übergänge, die an den ebenfalls zahlreicheren Kreisverkehren Standard sind. Liegt das an der kooperativeren Grundhaltung dort, die sich oft den Anschein einer nationalen Gemeinschaft gibt?
Man muss allerdings damit rechnen, dass man als Radfahrer durch die Beschilderung willkürlich von einer Straßenseite auf die andere beordert wird, und das sollte man vorher im Blick haben, was nicht immer einfach ist. In Finnland sind zudem viele Radwege als kreuzungsfreie Untertunnelungen gebaut, da muss man dann vorher ahnen, wie es hinter dem Tunnel weitergeht … (bzw. ob überhaupt in der beabsichtigten Richtung). Nein, aber Engel sind sie auch nicht, die Autofahrer dort. Auf der E4 in Schweden gibt es sowohl Abschnitte, wo Radfahren klar verboten ist (nämlich wenn es Alternativen gibt), als auch lange Strecken, wo es erlaubt ist. Und schon kann es passieren, dass einzelne Autofahrer versuchen, einen  „wegzuhupen“. „Platz da, das ist eine Autostraße!“ Und dass der sonst peinlich korrekt eingehaltene Mindestabstand beim Überholen spürbar unterschritten wird. Damit man einen ordentlichen Schreck bekommt.  Denn paradoxerweise – da wo Radfahren erlaubt ist, gibt es höchstens 30 cm Seitenstreifen rechts der weißen Linie. Wo es verboten ist, dagegen mindestens 1,50 m. Jedenfalls in Schweden, das viel weniger radfahrerfreundlich ist, als es den ersten Anschein hat. Es scheint oft mehr darum zu gehen, die Autofahrer vor den Radfahrern zu schützen, als darum, etwas für den Radverkehr zu tun. Auch Svenska Järnvägen, die schwedische Staatsbahn, pflegt als mutmaßlich einzige europäische Eisenbahn das Image, den Transport von Fahrräder völlig zu verweigern. Es könnten ja bei einem Unglück den Fahrgästen auch noch die Fahrräder um die Ohren fliegen, meinte Martin Valldeby als mögliche Erklärung…. Wer also nach Schweden fährt, sollte vorher wissen, wie und womit er wieder zurück kommt.

Was mache ich im nächsten Urlaub? Mal wieder Paddeln? Oder von Saint John nach Boston radeln? Ich weiß es noch nicht.

 

 

Veröffentlicht in: Blog

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