Mensch ärgere dich nicht oder: Die andere Art zu reisen…
Mein Zug zurück nach Berlin fuhr Donnerstag um 11.25 Uhr von Paris Est. Die Fahrkarten wohl verpackt in der Lenkertasche meines Fahrrads, das mich 930 km zuverlässig durch die Normandie beförderte. Ich startete für die letzten 11 km rechtzeitig um 10 Uhr vom Campingplatz im Bois de Bologne. So viel Zeit sollte trotz hereinbrechender Hitze und einer unkalkulierbaren Zahl von Ampeln wohl reichen…
Alles ging gut. Den riesigen Platz Maillot und die Avenue des Termes hatte ich schon hinter mir, war gerade auf den Boulevard des Courcelles eingebogen, – noch 5 km-, da hörte ich ein rhythmisches Knacken vom Hinterrad. Ich stoppte, schaute nach, sah erst mal keine Ursache. Vielleicht die Bremse? Gut, dann bremse ich bis zum Bahnhof nur mit der anderen. Ich schob das Fahrrad auf die Fahrbahn zurück und – plötzlich war der Reifen platt! Nein!!! Nicht das! Jetzt! Hier!
Nervös schaute ich auf die Uhr. 10.38 Uhr. Ich sah mir den Reifen genauer an: Ein dicker rostiger Nagel hatte den eigentlich pannensicheren Mantel durchbohrt, sein stumpfes Ende hatte den Lärm an der Bremse verursacht. Das einzig Gute daran – ich muss das Loch nicht erst suchen und kann darauf verzichten das Rad auszubauen und den Schlauch zu wechseln. Dachte ich. Also Gepäck abladen. Schlauch rausziehen, Flickzeug rausholen. In Windeseile den Flicken drauf, Mist, jetzt lässt sich die Folie vom Flicken nicht abziehen… Einen anderen her. Wo ist das zweite Loch? Wenn etwas durchbohrt ist, muss es doch 2 Löcher geben?? Ich fand es nicht. Flicken rauf, Schlauch wieder rein. Luft aufgepumpt. Hält nicht. Es MUSS ein zweites Loch da sein! Schlauch wieder raus. DA ist es! Geflickt, Schlauch rein, Gepäck rauf, Luft aufgepumpt, hält .. erst mal …! 11 Uhr und 3 Minuten. Noch mindestens 5 km! Spätestens um 11.20 Uhr muss ich den Bahnhof erreicht haben, beim TGV lässt man ab 2 Minuten vor Abfahrt keine Reisenden mehr zusteigen. Ich fuhr wie ein Begaster, schwitzte wie eine Sau und scheiterte doch immer wieder an den Ampeln (alle gefühlte 100 Meter eine), an der weichenden Luft im Reifen, die doch nicht hielt (also immer wieder nachpumpen), an den Einbahnstraßen kurz vor dem Bahnhof (natürlich alle nur in der Gegenrichtung frei).
Da – schon mal der Nordbahnhof! Um die Ecke ist der Ostbahnhof. Quer über Taxiwartespuren hetzend erreichte ich mit Müh und Not den Bahnsteig. 11.26 Uhr. Kein TGV nach Karlsruhe mehr da! Der ICE 13.10 Uhr kam mit Fahrrad nicht in Frage. Was nun?
Ich suchte nach dem Fahrkartenschalter. Völlig verschwitzt ließ mich ein Pärchen vor, obwohl ich nun alle Zeit der Welt hatte. „Je ne parle bien francaise. Parlez vous anglaise ou allemand? – Ich spreche nur schlecht französisch, sprechen Sie englisch oder deutsch?“ fragte ich den Schalterbeamten. Der schüttelte den Kopf und gab mir eine Telefonnummer. DB France. Nach einigen „Wenn Sie … dann drücken sie die…“ – Anweisungen hatte ich eine deutschsprechende Dame am Hörer. Ich erklärte ihr mein Dilemma. „Wann wollen Sie fahren? Heute noch?? Moment…“ Ich wartete eine scheinbare Ewigkeit. „Sind Sie noch da?“ fragte ich. Sie: „Müssen die Deutschen immer so ungeduldig sein?“ Nach einer weiteren Weile: „Ich habe da eine Möglichkeit um 20.05 heute Abend. Soll ich die reservieren?“ Ich bejahte und sie notierte meine Daten, sagte dann, ich müsse aber zur Rue Lafitte Nr. 20 kommen. Das sei gleich in der Nähe. Aber jetzt hätte sie erst mal Mittagspause. OK, also bis dann. Auf dem Stadtplan suchte ich die Adresse. Quadrat E4. Ich suchte und suchte. Keine Rue Lafitte. (Damals hatte ich noch kein Tablet mit google maps) Gut, dachte ich, ich bin jetzt nur zu nervös. Ich repariere jetzt erst mal mein Fahrrad. IN RUHE! Dazu fand ich einen wenig gefüllten und überdachten Fahrradständer vor dem Bahnhof, der mir den nötigen Platz und Schatten bot. Ich baute das Hinterrad aus und spürte wie K.O. ich war. Bei jedem Erheben aus der Hocke schwindelte mir, ich musste tief durchatmen und mich anlehnen. Wie ein alter Mann…! Mein rechter Daumen verkrampfte sich so, dass ich ihn mit der anderen Hand öffnen und den Arm dabei verdrehen musste. Dann waren es plötzlich die Finger der linken Hand. Nein! Was ist denn das? So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich beruhigte mich und es wiederholte sich zum Glück nicht mehr. Schlauch raus. Neuen Schlauch rein. Und so weiter. Jetzt war das erst mal wieder gut. Also – wo ist die Rue Lafitte? Noch mal den Stadtplan genommen. Nicht zu finden. Ich rief noch einmal
bei DB France an um sicherzustellen, dass ich mich nicht verhört hatte. Ewige Warteschleife, dann legte ich auf. Wer sitzt jetzt in Deutschland am PC? Ich rief Claudia an. Erwischte sie beim Mittagessen. Sie würde im Internet noch mal nach der Adresse schauen und mich dann zurückrufen. Inzwischen suchte ich die Bahnhofstoilette auf, wusch mir die Hände, soff die halbe Wasserleitung leer. Claudia rief zurück, konnte keine Adresse finden, nur die mir schon bekannte Telefonnummer. Ich dachte dann, ich versuche es mal mit der Rue Lafayette, die ist um die Ecke, vielleicht habe ich mich doch verhört. Also auf zur Rue Lafayette. An der Nummer 139 traf ich auf diese Straße, die Nummerierung ging abwärts. Ich fuhr und schaute, bis ich, weil sie zur Einbahnstraße wurde, wieder schieben musste und – wie ich so vor mich hinschob kam ich zur Ecke Rue Lafitte! Ich konnte mir ein ungläubiges Grinsen nicht verkneifen – ich befand mich im Planquadrat G 4, die Angabe von Falk war schlicht falsch. Hin zur Nummer 20. Fahrrad auf dem Hof geparkt. Der Fahrstuhl funktionierte nicht. Also Laufen, bis in den 5.Stock. Mir war jetzt alles egal. Eine freundliche Dame empfing mich und beschied, ich möge mich setzen und warten. Die Kollegin kam, sie hätte da einen CityNightline-Platz, auch für das Fahrrad. Aber nur bis Stuttgart. Ich bat sie, auch die weitere Verbindung nach Berlin zu prüfen. Da wären noch Intercitys. Aber keiner hatte noch freie Fahrradplätze. Also – Regionalexpresse bis Berlin, Stuttgart ab 04.52 Uhr! Berlin an 15.59! 16 Stunden nach der geplanten Ankunft. Ich stöhnte und willigte ein, und war nach einer Stunde um ca. 200 € ärmer (abgesehen von den 85 € für die verfallene Fahrkarte).
Das war meine teuerste Reifenpanne bisher!
Aus dem DB-France-Büro wieder hinaus auf die Straße gelangt erschlug mich fast die Hitze. Essen gehen. Nach rechts oder links? Rechts ist es sympathischer. Für 20 € eine Plate de Jour und zweimal eisgekühlten Apfelsaft, immer auf mein bepacktes Fahrrad schielend. Ein Clochard, der in einem Eingang gegenüber hauste, hielt mich wohl für einen Luxuskollegen und starrte mich immer mal wieder an. Ich las die Süddeutsche von gestern. Ließ mir Zeit. Inzwischen war es nach 14 Uhr. Ich fuhr hinunter zur Seine, bahnte mir meinen Weg durch Touristenmassen, in der mit der vagen Vorstellung die Beine im Wasser baumeln zu lassen, aber die Wasseroberfläche war für meine Füße unerreichbar, zu tief von der Ufermauer aus.
Weiter zum Jardin de Luxembourg, da kann man sich auf unbequeme eiserne Sitzmöbel oder auf den Rasen fläzen. Ich tat erst das Eine, dann das Andere, machte ein paar heimliche Schnappschüsse sozusagen aus dem Knie heraus, von denen ich die meisten wieder löschte. Um 19 Uhr wollte ich spätestens auf dem Bahnhof sein – der Weg war einfach, immer geradeaus nach Norden, dann trifft man, nachdem die Gegend immer afrikanischer wurde, auf den Ostbahnhof. Ich traf einen Hamburger, der dort ebenfalls mit seinem Fahrrad wartete. Es könnte Sinn machen, die Zugbegleiterin zu fragen, ob sie eine Lösung hat, wie ich schneller nach Berlin komme, denn ein Teil des Zuges fuhr ja dort hin. Nur hatte ich eben Plätze im Münchener Zugteil – bis Stuttgart. Sie versprach, sich zu kümmern, ich müsse dann kurz nach 2 Uhr in Mannheim umsteigen. Es war mir schier unbegreiflich, welch seltsamen Wege dieser Zug nimmt: Es gibt einen Zugteil nach Hamburg, einen nach Berlin und einen nach München. Dieser wird in Mannheim von den anderen getrennt, während ein weiterer Zugteil aus Basel wiederum mit den ersten beiden verbunden wird. Oder so ähnlich. Das 6er-Abteil war voll, heiß und stickig, das Fenster ging mit Gewalt ein Stück auf, die Elektroanlage des Wagens war defekt, – also keine Klimaanlage und – kein Licht.
Ich versuchte zu schlafen, während mir der Fahrtwind ins Gesicht blies, mein Köper sich zwischen meinen Gepäckteilen auf der Pritsche windete – umsonst. Die Schafferin, die ich vor Mannheim ersehnt hatte -„ich wecke Sie dann“, kam erst kurz vor Stuttgart. 04.17 Uhr Ankunft dort. Endlich Stuttgart21 sehen …! Ich schlenderte durch die leeren Hallen, schaute mir alles auch von außen an. Viel mit MP’s bewaffnete Polizei. Ein Seitenflügel fehlte bereits komplett. Was die Stuttgarter an dieser Weltkrieg 1-Architektur so bewahrenswert finden, konnte sich mir nicht recht erschließen. Milliardenausgaben allerdings auch nicht. 04.52 Uhr Gleis 5 statt Gleis 9, wie ursprünglich ausgeschildert. Der RE nach Würzburg trudelte ein, mit zugerosteter Gepäckwagenklapptür, ein Modell aus den frühen 70ern, die Tür könne sie nicht öffnen, meinte die junge Zugbegleiterin. Aber am anderen Ende gabs noch ein Fahrradabteil. Ich lud alles ein und quetschte mich in die Sitze, mal irgendwie liegend, mal irgendwie sitzend. Zweieinhalb Stunden bis Würzburg. Zweieinhalb Stunden dahin dämmernd, lesen ging nicht, da tanzten mir die Buchstaben vor den Augen. Schlafen ging aber auch nicht. Musik hören ging. Noch drei Züge bis Berlin. Drei Regionalexpresszüge, in denen ich durch Deutschland dahin dämmerte, dank der Tatsache, dass die DB sich bis heute nicht entschließen konnte, ICE’s für den Fahrradtransport freizugeben. Und natürlich kam es, wie es kommen musste. Erfurt lag hinter mir, der RE nach Magdeburg, wo ich dann wiederum nach Berlin umsteigen sollte, hielt in Staßfurt. Ich hatte meine Kopfhörer auf den Ohren und bekam schließlich mit, dass ich plötzlich der einzige Fahrgast im Zug war. Ich erfuhr, dass Kabeldiebe mal wieder die Signalleitungen lahm gelegt hätten und dass Schienenersatzverkehr eingerichtet worden sei oder würde. (Hatte ich nicht in Erfurt extra nachgefragt, ob das wirklich die beste Verbindung wäre, und da die Diebe nachts am Werke waren, hätte man das um 14 Uhr inzwischen wissen können???). Wie auch immer: In praller Hitze warteten gefühlte 100 Menschen auf einen (?) oder mehrere (?) Ersatz-Busse, – mir schwante nichts Gutes und wie ich da in einen Bus mit meinem ganzen Kram hineinkommen sollte, entzog sich meiner Phantasie. Ich musste mir was anderes einfallen lassen. Ein Taxi stand gegenüber, ich fragte, wie weit es nach Magdeburg wäre, 35 km sagte der Fahrer. Ich überlegte kurz, ob ich die mit dem Rad fahren will. Nein, dachte ich, jetzt heute und hier nicht! „Was kostet das nach Magdeburg?“ „Ungefähr 50 €“, meinte der Fahrer, der inzwischen trotz hitzebedingter Unlust realisierte, dass hier was zu verdienen war. Andere Fahrgäste wurden aufmerksam, er telefonierte nach Kollegen, orderte seine Frau mit einem VW-Bus herbei und ich teilte mir den Fahrpreis mit vier anderen Menschen, so dass der Preis erträglich blieb. In einem nur schwerlich als ‚bemüht schnell‘ zu bezeichnenden Tempo, permanent mit dem Handy am Ohr, kutschierte er uns dann zum Magdeburger Hauptbahnhof. Nur – den regulären Anschlusszug nach Berlin verpasste ich, aber eine Stunde später konnte ich wenigstens den nächsten erreichen.
Um 17.30 Uhr erreichte ich schließlich, mit 17 Stunden Verspätung und völlig übermüdet meine Wohnung wieder.
Echt spannend geschrieben!
Habe mitgefiebert …
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