Prologe
Diese Radreise begann ungewöhnlich: Nämlich mit einem Chorworkshop. Das weltberühmte Vocalensemble Voces8 lädt jeden Sommer zur https://voces8.foundation/summerschool in die Milton Abbey (UK) ein und ich dachte mir, ich verbinde mal beide Hobbies – Chorsingen und Radreisen – miteinander, indem ich anschließend von dort mit dem Rad zurückfahre. 124 Chorsänger aus der ganzen Welt trafen sich dort, um das Requiem von Johannes Brahms (auf Deutsch!) einzustudieren und aufzuführen. Aber dazu musste ich erst einmal dort hinkommen.
Prolog 1: Abenteuer Deutsche Bahn
Es gab im Juli 2024 schon seit einigen Jahren keine durchgehende Zugverbindung mehr von Berlin nach Paris mit Fahrradbeförderung, geschweige denn nach Groß Britannien. Eine Fahrradplatz ab Karlsruhe entpuppte sich als Fehlinformation der DB, so dass ich einige Wochen vorher wieder umplanen musste. Mir blieb nur eine Verbindung Berlin-Frankfurt/M – Offenburg – Kehl – Strasbourg – Paris – Cherbourg – Fähre.
Mein Zug startete in Berlin-Südkreuz 21.50 Uhr mit 20 Minuten Verspätung – etwa die Zeit, die ich in Frankfurt zum Umsteigen gehabt hätte, aber der Anschlusszug hatte auch Verspätung, was mich erst einmal beruhigte. In Frankfurt nachts um 2.40 Uhr angekommen, stellte sich dann heraus, dass der aus Amsterdam kommende Anschlusszug nicht nur mindestens 2 Stunden Verspätung haben, sondern auch noch von einem anderen Gleis abfahren würde. Zeit für mich, mir die mutmaßliche Wagenreihung im Aushang am ursprünglich geplanten Bahnsteig anzusehen. Geöffnet hatte nur noch ein verschlafener Kiosk, dessen Angebot mich nicht reizte. Ich fand auf dem geänderten Bahnsteig eine Bank in Höhe meines künftigen Wagens und döste über 2 Stunden vor mich hin bzw. las oder surfte mit meinem Tablet. Unterhielt mich mit einer Nachbarin. Dann kam der Zug. Voll besetzt.
Zum Glück war mein Fahrradplatz war zwar noch frei, aber noch während ich meine Sachen einlud, kam ein junges Paar, ebenfalls mit Fahrrädern und Gepäck, denn die fanden ihre gebuchten Plätze in einem anderen Wagen nicht. Irgendwie quetschten sie alles hinein. (Es gab nur 2 Haken für jetzt 3 Fahrräder.) Mein Sitzplatz war aber einem anderen Wagen reserviert. Numerisch hätte es der übernächste sein sollen. Ich nahm nur die Lenkertasche mit den Wertsachen mit und machte mich auf die Suche. Leider stellte sich heraus, dass es einen Wagen mit dieser Nummer gar nicht gab. Also wieder zurück zu Rad und Gepäck. Jetzt hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, mich erst einmal auf eine meiner Taschen zu hocken. Todmüde wie ich war. Bis Karlsruhe. Dann sicherte ich mir schnell einen frei gewordenen Sitzplatz im gleichen Wagen. Gegen 7 Uhr kam ich in Offenburg an. Jetzt hatte ich viel Zeit, und entschied, wie geplant nach Strasbourg mit dem Rad zu fahren, so wie ich es schon einmal 2021 gemacht hatte. Denn mein TGV mit gebuchtem Platz nach Paris fuhr erst nachmittags um 17.20 Uhr vom Gare Central. In dieser Zeit hätte ich die 28 km auch laufen können… Also fuhr ich langsam mit dem Rad nach Kehl. Unterwegs versagte mein Sigma-Kilometerzähler, dessen Kabel sich am Lenkertaschenhalter verklemmt hatte … Also Zeit, nach einem Fahrradladen in Kehl zu suchen, der mir aber auch nicht helfen konnte, aber dann hatte der km-Zähler ein Einsehen und funktionierte plötzlich wundersamer Weise wieder.
Nach einem Kaffee sowie Pflaumen-, oder Zwetschgenkuchen wie man hier sagt, legte ich mich in den Schatten eines Baumes in einer Grünanlage am Rhein und versuchte vergeblich etwas Nachtschlaf nachzuholen. Irgendwann gab ich den Versuch auf und fuhr über die elegante Radfahrer Rhein-Brücke, vorbei an stylisch umgebauten ehemaligen Speicher bis in die von Touristen völlig überfüllte Innenstadt, aß dort ein Eis, trank einen „Café aux lait“ und wartete die restliche Zeit im Bahnhof auf die Einfahrt des TGV. Den Bahnsteig darf man in Frankreich ja erst betreten, wenn der Zug da ist.









Pünktlich – wie auch anders – kam der Zug ca. 2 Stunden später in Paris an. Ich navigierte zu meiner AiBnb – Gastgeberin, suchte ihre Klingel, fand nur eine kryptische Tastatur, mit der ich nichts anfangen konnte, telefonierte – ach es war kompliziert, – schließlich kam sie und entschuldigte sich. Alles gut. Übermüdet ging ich ziemlich bald schlafen.
Prolog 2 Auf nach England
Am nächsten Morgen hatte ich Zeit in Ruhe zu frühstücken, denn mein Zug vom Gare Saint Lazare fuhr erst 11.40 Uhr, so dass ich ausschlafen und gemütlich per Rad durch das sonntägliche Paris zum Bahnhof navigieren konnte. 6 km – kein Problem.



Mit dem TER kam ich pünktlich 14.40 Uhr in Cherbourg an. Drei Stunden Zeit bis zum Einchecken in die Fähre nach Poole, die dort nur einmal täglich ablegt. Ein wenig Stadtbesichtigung, auch die gotische Kirche war sehenswert. Ich bewunderte die womöglich nördlichste Freiluftpalme mitten auf einer Kreuzung. Essen gehen in einem Restaurant am innerstädtischen Hafenbecken – dann in einer langen Schleife zur Fähre.






4 Stunden dauerte die Überfahrt, während es immer mehr dämmerte und ich dann im Dunkeln 21.45 Uhr in Poole ankam. Meine AirBnb Gastgeberin in Hafennähe erwartete mich schon und führte mich in mein kleines Zimmer. Entgegen meiner Annahme gab es kein Frühstück (Ich meinte, ich hätte das in ihrem AirBnB-Profil gelesen), aber sie spendierte mir freundlicherweise etwas Brot. Dann ging es endlich per Rad los, denn ich musste zwischen 11 und 12 Uhr in der Milton Abbey sein. Ich hatte mir eine Streckenvariante für mein Garmin Navi gebastelt, die mit an bequemsten schien, mit der ich nach 32,4 km dort ankommen würde. Hauptsächlich über Nebenstraßen, wobei sich ein Stückchen stark befahrene A31 nicht vermeiden ließ. Rechtzeitig traf ich in der Abbey als einziger Radfahrer ein.






Die 6 Tage in der Abbey waren geprägt von vielen Begegnungen mit 124 fähigen Mitsängern aus aller Welt und intensiven Probenarbeiten, sowie dem Abschlusskonzert mit dem Requiem von Brahms am letzten Abend, das ein voller Erfolg wurde.
Die Radreise geht los!
Kaum startete ich bei strahlendem Wetter am nächsten Morgen, musste ich nach wenigen hundert Metern wieder stoppen, denn mein Nabenschaltung drehte durch. (Mein Rad ist mit einer SRAM Dual Drive 27 ausgestattet, also eine kombinierte Naben-/Kettenschaltung). Also zurück, um auf einer Wiese der Abbey das Rad auf den Kopf zu stellen und nach der Ursache zu suchen. Die Nabe, fast unbenutzt, hatte ich ca. 4 Jahre zuvor bei Ebay ersteigert, weil SRAM die Produktion eingestellt hatte und weil meine bisherige nach 6 Jahren langsam Alterserscheinungen zeigte, habe ich die ‚neue‘ in ein neues Hinterrad einspeichen lassen. So lange hatte seitdem in einem Regal gelegen. Ob es an der Fettung liegt, die vielleicht eingetrocknet ist, überlegte ich, nachdem meine Untersuchung erfolglos blieb. Ich wusste es nicht und hätte erst einmal auch kein Mittel dagegen gehabt. Aber irgendwie besann die Schaltung sich und ich durfte erst einmal weiterfahren. Ich versorgte mich im nächsten Dorfladen – Läden haben auch sonntags auf, mit ein paar Lebensmitteln. Da ich für die erste Etappe zur Abwechslung bis Poole eine andere Strecke geplant hatte als hinwärts, landete ich leider bald für ein längeres Stück wieder auf einer A-Straße, diesmal der A 35. Hier herrschte ein höllischer Verkehr wie auf einer deutschen Autobahn, mit dem Unterschied, dass bei uns dann Radfahren verboten ist, hier aber nicht. Und es gibt nicht nur keinen Seitenstreifen, sondern die Straße ist auch noch viel zu eng für den Verkehr. Nicht einmal Bundesstraßenbreite! Prompt wurde ich immer mal wieder angehupt. „Weg da!“ Irgendwann landete ich vor einer Zugbrücke in Poole, an der sowieso alle warten mussten. Mein erstes Ziel war, einen Computer bzw. Smartphone-Laden zu finden, denn in der Milton Abbey kam es bei meinem Tablet immer wieder zu Abstürzen, und auch Reparaturprogramme führten zu keiner Lösung. Der Händler, den ich dann fand, meinte, das läge am Display und er könne mir da leider nicht helfen. Er könne mir nur ein anderes Gerät empfehlen. Ohne Tablet komme ich aber nicht an mein Bankkonto und an andere wichtige Programme, also schien mir nichts anderes übrig zu bleiben als ein neues Tablet zu kaufen. Ich sah ein 8 Zoll Samsung Tablet für 100 Pfund und kaufte es notgedrungen. Ich aktivierte es aber noch nicht und fuhr, nachdem ich endlich in einem Café etwas essen konnte, weiter. Plötzlich funktionierte das alte Tablet wieder. Und das blieb auch so. Wahrscheinlich hatte es einen Schreck bekommen…
Jetzt hatte ich ein überflüssiges neues Tablet mit weniger Leistung zusätzlich im Gepäck und ein vor Schreck wieder erwachtes, an das ich gewöhnt war. Aber ich war noch misstrauisch und brachte es nicht in den Laden zurück. Ich fuhr weiter, quälte mich am Strand von Bournemouth durch ein Gewühl von Menschen, denn es fand ein Strandfest statt. Schließlich musste ich scharf links in eine so steil aufwärts führende Straße abbiegen, dass mir nichts anderes übrigblieb als zu schieben, hoch zum Boscomb Overcliff Drive, bis es dann wieder relaxed geradeaus ging, dann quer durch Southborn und andere Küstenstädtchen und hügeliges Gelände, bis ich abends hinter Milford on Sea auf dem Campingplatz der Muddy Creek Farm landete. Nein, der Platz war nicht ‚muddy‘ (matschig), wie man aufgrund des Namens befürchten konnte. Aber 15 Pfund waren okay.





Am nächsten Morgen hatte ich vor, über die Isle of Wight zu meinem warmshowers-Gastgeber zu fahren. Zunächst machte ich einige Besorgungen in Lymington und fuhr dann die 6 km mit der Fähre bei strahlendem Sonnenschein hinüber auf die Insel.
Nach einem Schlenker über eine als Radweg umgebaute ehemalige Bahnstrecke ging es auf sehr engen Sträßchen hügelaufwärts. Zum Glück mit wenig Verkehr.









Jetzt, schließlich oben angekommen nach links auf den Calbourne Road – und dann passierte es: Hier war der Verkehr stärker und ich wich zu sehr nach links aus und geriet mit der vorderen linken Seitentasche ins Gebüsch, blieb hängen und das Rad kippte weg, ich konnte mich gerade noch nach rechts heraushieven, zog das Fahrrad hoch und sah das Malheur: Bei der dieser Seitentasche war die Aufhängung gebrochen und hing nur noch an einer Befestigung. Ich schob ein Stück weiter an eine weniger gefährliche Stelle und befestigte dass erst mal wieder irgendwie provisorisch. Es gibt oft, wie an dieser Straße hier, keinen freien Sicherheitsstreifen oder gar einen Fuß- oder Radweg zwischen Fahrbahn und Büschen oder Gebäuden. „Eng“-land eben…
Kurze Rast am Hafen von Newport, dann wieder aufwärts Richtung Wootton zu meinen Gastgebern, deren Haus ich nach einiger Verwirrung schließlich fand. Benjamin, ein Umweltingenieur und Sylvie wohnen mit Kind in einem edlen ökologischen ausgestatteten eigenen Haus und da er gerade in einer Videokonferenz vertieft war, hörte er mein Klopfen und Rufen zunächst nicht. Dazu kam, dass seine Frau hatte auch vergessen hatte ihm zu sagen, dass ein Gast kommen würde. Schließlich ging ich um das Haus herum – er kam heraus, begrüßte mich und entschuldigte sich gleich wieder, um die Videokonferenz zu beenden. Sylvie kam mit Sohn erst später. Ich bekam ein eigenes Zimmer mit eigenem Bad. Es stellte sich übrigens heraus, dass sie nicht im herkömmlichen Sinne ‚arbeiten geht‘, sondern sie macht Homeschooling mit ihrem Sohn. Er muss nur in Abständen nachweisen, dass er das nötige Wissen erworben hat. Beide sind übrigens aus Belgien eingewandert und so wird der Sohn auch zweisprachig französisch/englisch erzogen.
Am nächsten Morgen fixierte ich den abgebrochenen Haken erst einmal mit Sekundenkleber und Kabelbinder …!
Erstaunlicherweise hielt das mit einer Korrektur in Worthing fast bis Bremen!
Jetzt wieder zur Fähre und hinüber nach Portsmouth. 11 km Überfahrt und ein markantes städtisches Panorama mit einem futuristischen Aussichtsturm. Und einem Blick vom Schiff aus in ein paar malerische Altstadtstraßen. Ich fuhr am Hafen entlang und entdeckte von weitem Admirals Nelsons Segelschiff, die HMC Victory, die hier als Museum liegt.





Gleichwohl hielt ich mich nicht lange auf, denn ich wollte meine Warmshowers – Gastgeberin in Worthing nicht allzu spät erreichen. Eingezwängt zwischen Autobahn und Meeresbucht fädelte sich ein ordentlicher Radweg ostwärts. Schließlich landete ich in Chichester und wurde von der Kathedrale in den Bann gezogen. Die musste ich besichtigen!





Die 995 Jahre alte Kathedrale, vor der der Heilige Richard, der die Normannen christianisiert hat, als überlebensgroßes Denkmal steht, hat eine bemerkenswerte Länge. An das Hauptschiff reiht sich der Chor an, darüber an der Schnittstelle zum Hauptschiff der im 19.Jahrhundert eingestürzte und wieder aufgebaute Vierungsturm und anschießend noch die Marienkapelle. Am Hochaltar zwischen Chor und Marienkapelle finden sich ein Wandteppich – auf der Vorderseite von John Piper, auf der Rückseite von der deutschen Künstlerin Ursula Benker-Schirmer. Und der Höhepunkt war für mich ein originales Glasfenster über den 115.Psalm von Marc Chagall.












Ein kleines Stück weiter thront das „Chichester Cross“ wie ein begehbares Denkmal mitten auf einer Kreuzung.

Weiter ging es Süd ostwärts im Zick-Zack über Nebenstraßen nach Worthing, wo ich abends erst einmal am falschen Haus klingelte, weil ungerade und gerade Hausnummern auf verschiedenen Straßenseiten und verschiedenen Höhen lagen (hätte ich doch von zuhause kennen können!). Also wieder ein Stück zurück bis zum Haus meiner Gastgeberin, mit Eingang an der Giebelseite – nicht vorn, da wohnen andere. Claire folgte ich schon auf Facebook, denn als ich sie bei warmshowers.org entdeckte, fiel mir auf, dass ich ihren Namen kannte, und ja- sie war dieselbe – eine blonde, sportliche Zahntechnikerin. Sie kümmerte sich auch gleich mit um meinen abgebrochenen Taschenhalter und wir feilten einen überflüssigen Grat ab, erneuerten die Klebung und sie schenkte mir noch ein paar dicke Kabelbinder (die ich dann nie gebraucht habe). Abendessen auf dem Balkon mit Rotwein mit angeregten Gesprächen. Sie bewunderte mich vor allem wegen meines vielen Gepäcks…

Obwohl Claire auf den ersten Blick nicht wie eine Athletin auf mich wirkte, hatte sie eine große Hantel für Gewichtheben in ihrem Wohnzimmer liegen, relativierte deren Bedeutung aber auf mein Erstaunen hin, Sie macht aber mit ihrem Freund sogar Tagestouren von mehr als 300 km mit ihrem Mountainbike, und das im hügeligen Sussex! Leider konnte sie mein überflüssiges gewordenes neues Tablet nicht gebrauchen, empfahl mir aber einen Laden im nächsten Ort. Am nächsten Morgen war sie längst aufgestanden und musste zur Arbeit, so dass ich dann allein frühstückte und mich aber bald auf den Weg hinunter zur Strandpromenade machte.
Der erste Laden, in dem ich mein überflüssiges Tablet wieder verkaufen wollte, hatte – für immer? – geschlossen, den zweiten fand ich nicht, im dritten hatte ich keine Geduld mehr und verkaufte das Ding für 50 Pfund in Portslade-by- Sea.
Ein Badeort reihte sich an den anderen. Lancing, Shoreham, Brighton. Gründerzeitliche Hotelpracht, ein ausgebranntes Gerippe einer Seebrücke verwaist seit 20 Jahren im Wasser vor Brighton, längst gibt es eine Neue, ein futuristischer Aussichtsturm überragt alles. Brighton ist ja als berühmtes Seebad auch immer wieder Tagungsort von Politprominenz. Jetzt habe ich ein wenig ein Bild im Kopf, wenn der Ort in den Nachrichten erwähnt wird. Überquellend von Touristen mied ich aber die Innenstadt und war froh, auf der Strandpromenade bleiben zu können.
















Diese Badeorte haben einerseits etwas Imposantes an sich, andererseits lockt mich nichts dort länger zu verweilen. Ich aß noch etwas in einem Strandrestaurant, nachdem ich ewig auf die Bedienung gewartet hatte, dann, hinter Newhaven und einem starken Anstieg landete ich zwischen Bahnstrecke und Deich auf einem Campingplatz.
Am nächsten Tag zwangen mich steile Anstiege bei Sommerhitze und Gegenwind vor Eastbourne zum Schieben. Auf der A-Road herrschte ein gnadenloser Verkehr, natürlich teilweise ohne Radweg oder Seitenstreifen. Parallele Alternativen gab es keine. Ich nahm es mit Sarkasmus hin und dachte mir, dass „Eng“land bestimmt so heißt, weil alles so „eng“ ist. Unterwegs lockte eine Ausstellung zum Stoppen, gleichwohl begnügte ich mich mit einem Milchkaffee. Ich hatte gerade keinen Nerv dafür. Einkaufen in Eastbourne, aber bald folgte nach dem eher unbedeutenden Bexhill-on-Sea das historisch berühmte Hastings (Schlacht bei Hastings 1066, als Wilhelm der Eroberer als Anführer der Normannen die Angelsachsen besiegte), mit einer einladenden Strandpromenade und repräsentativen Gebäuden.












Wo war jetzt gleich der Campinglatz? Hoch oben, mehr als 150 m über der Stadt zunächst durch eine enge Gasse, vorbei an niedlichen gedrungenen Altstadthäuschen, dann eine unfahrbar steile Abzweigung, die Barley Lane hinauf, immer weiter aufwärts keuchend bis zum Camping auf einer großen, einladenden Wiese mit einem netten Platzwart.




Regen drohte, aber verzog sich alsbald wieder. Keine gleichgesinnte Nachbarschaft, nur Camper Familien mit protzigen PKW, riesigen Zelten und lärmenden Kindern, irgendwann endlich Ruhe!
Mit 12%, dann 10% Gefälle ging es am morgen dann abwärts nach Fairlight. Und ab Cliff End wurde es plötzlich flach. Eine richtige platte Ebene, wie im norddeutschen Tiefland! Lydd kam, mit einer sehr langen gotischen Kirche, die ich mir unbedingt anschauen musste. Draußen traf ich die ersten anderen deutschen Radler, ein Familie mit Kindern, die aber westwärts unterwegs waren.











Ich hatte mir dem Farmcamping Norwood Farm ausgesucht und erreichte ihn schon am Nachmittag über sich windende enge Wege. Dort zeltete ich auf einem vornehmen englischen Rasen neben einem Pärchen aus Deutschland, das mit einem Kleinbus unterwegs war.
Jetzt waren es von der Norwood Farm bis Dover nur noch ca. 70 km, so dass ich die Etappe in zwei Teile teilte, denn die Fähre über den Kanal fuhr erst übermorgen um 16.40 Uhr. Also in Ruhe los nach Folkestone. Es blieb weitgehend flach. Aber meine Nabenschaltung streikte immer öfter und ich trat durch, egal in welchem Gang. Ich machte Pause in Mr.Whippets Café um etwas zu essen und googelte nebenbei nach einer Fahrradwerkstatt, ohne große Illusionen, denn 2018 hatte ich fast nur schlechte Erfahrungen gemacht, weil man mich überall abwies und mir einen Termin in… Wochen anbot. Wieder einmal dachte ich – das war es dann wohl mit meiner Reise. Oh – da ist ja eine gleich in der Nähe, 200 m weiter! Yapcycles hieß der Laden, bei Google Streetview noch gar nicht zu finden. Ich stieg dort ab und schon kam mir die Frau des Besitzers entgegen und half mir, alle Taschen abzuladen und in den Laden zu bringen. Das Ganze entpuppte sich als eine Mischung aus Werkstatt und Café mit großem Kuchenbuffet! Ich erkläre dem Mechaniker, was los ist und er nickte verständnisvoll, gleichwohl meinte er aber auch, dass er nicht viel von dieser SRAM Dualdrive verstünde. Ich teilte ihm meinen Verdacht mit, dass das Fett innen eingetrocknet sein könnte und so lockerte er die Verschraubungen und presste mit einer Fettpresse frisches Fett hinein. Außerdem justierte er die Kette nach, befestigte mein Lichtkabel neu mit extra Kabelbindern, während ich in Ruhe Kaffee trank und ein großes Stück Kuchen aß. Best service ever! Das Nabenschaltungsproblem war gelöst! Mit 20 Pfund war das Problem gelöst. Eine **** google maps-Bewertung war ihm sicher: Great instant service. The combination with a café makes it unique.







Hinter Folkestone suchte ich den Campingplatz, der in halber Höhe an den Klippen gelegen war und folgte erst einmal einer Missweisung, die mich auf einen schmalen Pfad führte, der steil nach oben zu einer Überführung über eine schmale Straße führte, von der ich dann eine steile Treppe zu eben dieser Straße hinab gesollt hätte — das kann nicht richtig sein! Also zurück, um dann aber in genau diese Straße abzubiegen und – dann landete ich am Camping und schaffte es gerade noch vor einsetzendem Regen mein Zelt auf einer schmalen Terrasse aufzubauen. Eigentlich ein sehr idyllisch gelegener Platz, wenn es nicht gerade regnet und das Restaurant nicht geschlossen wäre …
Aber es gab später und auch am anderen Morgen einen phantastischen Blick übers Meer und die berühmten Kreidefelsen von Dover. Zwei später angekommene Campingmobile mit dem BA-CH Kennzeichen erregten meine Aufmerksamkeit am nächsten Morgen, Bach? Sind das Musiker? Und siehe da, zwei Orchestermusiler aus Bamberg hatten sich mit ihren Familien die Autos geliehen, wobei das mit dem Kennzeichen wohl eher ein lustiger Zufall war. Ich summte die Melodie B-A-C-H und machte dadurch auf mich aufmerksam und so entspann sich eine nette Unterhaltung, in der ich von Voces8 und der Summer-school erzählte. Dann traf ich noch andere Radler: Ein verrückter Typ hatte sich über einen Versandhandel ein monströses E-Bike gekauft, das er gerade wieder zum Teil demontierte, denn er hatte Sorge, dass er damit die kommenden Steigungen nicht schaffen würde und sich ein Taxi bestellt. Und ein anderes deutsches Radlerpaar, die aber von Dover kamen und Richtung Irland wollten. Ich hatte ja genug Zeit an diesem Morgen für ausführlichen Erfahrungsaustausch.






Zwischenakt:
Das Directferries-Theater
Beim Portal directferries.com hatte ich ursprünglich beide Fährfahrten von Cherbourg nach Poole von Dover nach Calais gebucht. Inclusive zugesicherter kurzfristiger Stornierungsmöglichkeit. Nachdem ich entdeckte, dass die Verbindung von Dover nach Calais bei Brittany viel günstiger war, buchte ich die Verbindung dort und stornierte die Buchung bei directferries. Das wurde zu einer sehr langwierigen Angelegenheit mit insgesamt 11 E-Mail Wechseln, bei der ich etliche Male wieder eine Buchungsbestätigung statt einer Stornierungsbestätigung bekam. Dann wieder sollte ich beweisen, dass ich eine andere Verbindung gebucht hätte – was die das wohl angeht? Ich fing an zu durchschauen, dass ich offenbar mit einer KI kommunizierte, die mit unterschiedlichen Vornamen antwortete und das Wort „Stornierung“ offenbar nicht in ihrem Wortschatz hatte – vermutlich eine Absicht, damit es richtig umständlich wird und die Kunden irgendwann aufgeben. Nicht mit mir! Gerichtsstand wäre Irland – immerhin in der EU – und ich bereitete einen Rechtsstreit im Geiste vor. Ich gab dann irgendwann auf, den Mailwechsel fortzusetzen. Tage später hatte ich dann das Geld wieder von directferries erstattet auf meinem Konto…
Merke: NIE WIEDER ÜBER DIRECTFERRIES BUCHEN!
Also weiter nach Dover, weiter auf schmaler Straße aufwärts, oben entlang der Steilküste mit herrlicher Aussicht auf das Meer, aber Frankreich war im Dunst verschwunden und verbarg sich noch. Ich besuchte ein Open Air Kriegsmuseum, das den Gefallenen bei der Luftschlacht um England 1941 gewidmet war.







Später verfuhr ich mich erst einmal, weil ich an einem Kreisverkehr die richtige Abfahrt hinunter nach Dover übersah. Dann erkundete ich das Städtchen, das ebenfalls eine überraschend repräsentative Strandpromenade hat. Es war noch viel Zeit und so aß ich endlich eine Portion Fish’n Chips, was ich die ganze Zeit vermisst hatte. Das Hafengelände erwies sich als riesig und ich musste erst bis ganz zum Ende fahren und dann in einer Schleife zurück. Es war erst nach 14 Uhr. Ich ging in das Check-In-Büro und der Mann am Schalter meinte, ich könne ja die nächste Fähre eine Stunde früher nehmen – da wäre noch Platz. Prima, also nichts wie los. Zusammen mit 3 jungen englischen Radsportlern, die mal eben ein bisschen durch Frankreich radeln wollten, verzurrten wir die Räder im Laderaum.












Frankreich
Die Fähre per Rad zu verlassen erwies sich als etwas umständlich, denn ich fuhr mutig geradeaus wie sonst üblich los, übersah aber, dass die Radfahrer durch ein Labyrinth von Umwegen hinter einem Grenzschutz-PKW her fahren mussten, bis wir in einem mit Hochsicherheitszaun eingezäunten Gelände an einem Tor ankamen, das extra für uns geöffnet wurde. Und ich dachte erst, ich könnte einfach den gleichen Weg nehmen, wie die Autos, und schon pfiff man mich zurück… Europas Außengrenze!
Ein paar uniformierte Grenzschützer sah ich unterwegs noch und zeltete dann auf einem Campingplatz in Oye Plage, etwas abseits der Küste, weil sämtliche Plätze direkt am Meer ausgebucht waren.
Am nächsten Morgen nahm ich die mir schon bekannte Strecke über Grand-Fort-Philippe mit der bemerkenswerten alten Seennotrettungsstation. Anschließend machte ich einen kleinen Stadtbesichtigungsumweg durch Graveline mit interessanter Kirche.











Jetzt wollte ich meiner mit ‚komoot‘ geplanten Route nach Dünkirchen folgen und landete in einer Sackgasse, denn wegen einer riesigen Hafenerweiterungsbaustelle gab es Umleitungen, die nicht ausgeschildert waren und auch Google Maps zeigte mich mitten in einem Feld stehend, während ich mich auf einer gut ausgebauten Straße in einem Gewerbegebiet befand – „Durchfahrt eingeschränkt“ ! Also noch mal zurück, aber die D 11, auf der ich dann landete, führt nicht Richtung Dünkirchen, sondern in Nord-Süd-Richtung. Kehrtwendung, es MUSSTE da irgendwie lang gehen! Ich folgte dann wieder der alten komoot-Weisung in der Hoffnung, dass ich da irgendwie durchkomme, aber die Straße endete vor einem Damm, der mal eine Straße werden soll… Zurück! Ich stoppte ein Auto, aber der Fahrer konnte mir nicht helfen. Weiter. Wieder stoppte ich ein Auto, aber auch dieser Fahrer wusste nicht, wohin diese neue Straße, auf der wir uns beide befanden und die durch das Gewerbegebiet ging, führte. Vermutlich arbeiten die alle hier und fahren immer nur bis zu ihrem Arbeitsplatz… Der dritte Autofahrer schließlich wusste es auch nicht, aber immerhin vermutete er, dass ich da tatsächlich durchkommen würde und so fuhr ich alle Schilder ignorierend einfach weiter – nach einer Kurve landete ich an einer Straße mit dem plötzlich auftauchenden Hinweis „Umleitung Radroute“ Richtung Bourbourg, und ab da weiter Richtung Dünkirchen … Ausatmen!








Das alles hatte mich so aufgehalten, dass ich keine Lust mehr auf eine längere Stadtbesichtigung von Dünkirchen mehr hatte, außerdem war ich ja 2021 schon mal dort. Auf nach Belgien! 20 km noch auf einer Radroute entlang einer still gelegten Bahnstrecke. Mit zunehmendem Radverkehr.

Belgien
Erst einmal Kaffee trinken. Dann los. Ich wollte an der Küste entlangfahren. Als erstes kam De Panne. Ein Ort, von dem ich bisher noch nie gehört hatte entpuppte sich als ein Städtchen mit großstädtischer Architektur bis zum Strand hin und weiter an der von Menschen überfüllten Strandpromenade entlang. Es wirkte auf mich als würde ganz Belgien im August an die eigene Küste ziehen… Ebenfalls parallel zur Küste führt bestimmt eine der längsten Straßenbahnlinien der Welt über 67 km bis Knokke-Heist kurz vor den Niederlanden. Also erst einmal mutig durch die Massen an der Küste entlang und ich fotografierte, was sich an Motiven bot.











Hinter Koksijde hatte ich dann genug von dem Gewühle und bog landeinwärts über herrliche Radrouten ab, vorbei an einem riesigen scheinbar schwebenden Wasserhahn, aus dem eine wahre Flut strömte, kreuz und quer immer Richtung Nieuwpoort, das ich umfuhr, um dann einen Campingplatz in Westende anzusteuern.


Um 19 Uhr war da schon die Rezeption geschlossen, aber ich fand nach einigem Suchen den Platz für die Zeltler, darunter einige andere Radreisende. Stromanschluss inclusive. Na gut, dachte ich, dann zahle ich eben morgen früh und stellte mein Zelt an einem Gebüsch auf. Die Kommunikation mit den anderen Radlern blieb spärlich – Paare blieben lieber unter sich. Als ich am nächsten Morgen zahlen wollte, erlebte ich eine gelangweilte Rezeptionsfrau, die sich viel Zeit ließ unfreundlich 20 € zu kassieren. Das hätte ich mir sparen können, keiner hätte bemerkt, wenn ich einfach losgefahren wäre, dachte ich hinterher. Zumal der Platz riesig und unübersichtlich ist und ich dreimal fragen musste, bis ich die Rezeption fand – als wollte sie nicht gefunden werden.
Einkaufen war fällig und in Westende-Bad fand ich einen kleinen Supermarkt, in dem sich ein Kundentraube vor den Brötchenbehältern sammelte. Die Preise waren beeindruckend hoch – wie in den USA! Urlaubergerecht? Aber Jetzt ging es wieder zur Küste und hinter Middelkerke wieder auf den Deich am Strand in eine völlig zubetonierte, jeder Natürlichkeit beraubt Landschaft von beeindruckender Hässlichkeit. Strand-Beton-Deich-Straßenbahn-Straße. Ein paar Westwall-Reste aus WWII. Eine Bunker zu Wohnzwecken umfunktioniert. Kilometerweite Öde. Am Ende – Oostende. Und wieder eine Strandpromenade wie in De Panne mit Appartement-Blöcken, nur noch mächtiger.

















‚Weg hier‘, dachte ich, und ‘hier kauf ich mir nicht mal ein Eis!‘, und bog wieder landeinwärts ab. Ich versuchte vorher noch herauszufinden, ob ich es irgendetwas Sehenswertes gibt, das ich mir ansehen sollte – aber ich war zu genervt. Ich wich ab von meiner geplanten Route, fuhr am Rande der hektischen urlauberdurchfluteten Großstadt entlang, um nach einigen Kilometern auf eine ebenso langweilige Landstraße zu geraten, die ich mangels Alternativen so lange wie nötig befuhr, bis ich endlich kleinere Radrouten erreichte, denen ich folgte. Auf einer kleineren Straße überquerte ich dann die Grenze zu den Niederlanden. Beschildert nur als Zeeland. Ach ja, ich komme ja auch gerade nur aus Flandern und nicht aus Belgien…







Niederlande
Mein Ziel an diesem Tag war ja der Strandcamping Groede. Zwischen Büschen auf einer kleinen Zeltwiese schlug ich dort mein Zelt auf, dann machte ich einen kleinen Ausflug zum Meeresstrand um endlich mal wieder Schwimmen zu gehen, dachte ich, und wie üblich, in solchen Fällen ist Ebbe und irgendwo weit weg winkt das Meer! Zurück, schnell noch ein Bier als letzter Gast in einem Gartenlokal. Gute Nacht!
Weiter am nächsten Tag, dann oben auf dem begrünten Deich entlang zur Fähre über die Westerschelde.







Diese sollte halbstündlich fahren. Als ich an der Anlegestelle ankam, hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, mich in einer langen, gewundenen Schlange anzustellen, die sich gefühlt endlos langsam vorwärtsbewegte. Eine Fähre reichte für diese Menschenmenge nicht, – also eine weitere halbe Stunde auf die nächste warten, die sich dann auch erst einmal entleeren musste, bevor es dann endlich langsam weiter ging, vorbei am Fahrkartenautomaten, dann wieder warten, dann endlich nach mindestens einer Stunde Dauer dieser Prozedur legte die Fähre endlich ab nach Vissingen. Von hier aus fuhr ich dann am Kanal weiter nach Middelburg, der Hauptstadt von Zeeland. Hier wollte ich zum Rathaus, das Stadhuis, um eines der bedeutendsten gotischen Gebäude der Niederlande betrachten zu können – aber oh je, der Platz darum herum war vollgestellt mit Buden und Karussells. Ich fand für gute Fotos keinen sinnvollen Abstand. So blieb es mir leider im Jahrmarkstgetöse verborgen und ich begnügte mich mit einem Streifzug durch innerstädtische Gassen dieser malerischen Stadt.








Ein Stückchen weit Agrarkulur


Und dann – plötzlich riesige Dämme und Stauwerke mit viel Beton, über das Veerse Meer, die Oosterschelde-Sturmbarriere, dann endlich an einer Bucht – Schwimmen! Das zweite Mal erst auf dieser Reise. Keine Ebbe und ein ruhiges Stück Nordsee! Jetzt noch der Damm über das Deltageul, und schließlich der Hartelkanal, der äußerste Arm an dem das Hafengelände von Rotterdam beginnt.












Doch bevor ich mich dem Moloch Rotterdam und seinem riesigen Hafengebiet nähere, wird es noch einmal ländlich – idyllisch mit einem Abstecher in das Städtchen Goedereede und seiner reformierten Kirche.















Nach Rotterdam rechts abbiegen. Riesige senkrechte rätselhafte Betonschalen – Windblockaden? Und dann — diese endlose Industrieanlage – Raffinerien hauptsächlich – eine nach der anderen. Für Radfahrer ist mit einer gesonderten Umfahrung gesorgt. Nach gefühlt unendlichen 18 km geht es endlich raus aus dieser Industriewüste am Rande des größten europäischen Hafens in die Stadt hinein.















Jetzt musste ich noch mein AirBnB Quartier finden, aber wozu habe ich einen Navi und google Maps? Manchmal nützt das wenig, wenn man durch einen Eingang muss, um in einem Tunnel das Wasser zu unterqueren. Aber da ich mit dem Fahrrad nicht schwimmen kann, habe ich dann kapiert, dass ich da durch eine eher unauffällige Tür muss.


Und so landete ich, nach einem ersten Eindruck von Rotterdams moderner Architektur, am Scheepmakershaven an einem als Quartier vermieteten, mit Pflanzen bewachsenen Lastkahn und machte mich bemerkbar.








Ein bärtiger dunkelhäutiger schlanker Kerl stellte sich als der Skipper vor und half mir mit meinen Taschen über die Reeling. Einen Teil der Taschen verstaute ich in einem Schacht am Bug und nahm nur das, was ich brauchte mit in das Schiff, eine steile Leiter hinab. Ich bekam eine lichtlose Kajüte. Der Kahn ist vollständig zu Wohnzwecken und als Yoga Studio ausgebaut. Indische Düfte stiegen überall in meine Nase. Alles ist sehr kunstvoll und spirituell gestaltet mit einem Yoga-Raum, den ich hätte nutzen können, nur bin ich leider kein Yoga-Kenner. Ich unterhielt mich mit meinem Gastgeber über seine Herkunft und seine spirituelle Schule, die ich keiner klaren Richtung zuordnen konnte und er erzählte mir, dass er in Kenia geboren sei, sein Vater aber Professor in Frankfurt/M. gewesen wäre und er von seiner philosophischen Schule geprägt worden sei. An die Details erinnere ich mich nicht mehr. Seine große und schlanke, ebenfalls dunkelhäutige Partnerin, verabschiedete sich am nächsten Morgen um an einem Seminar in Egmont an Zee bei den Sanyassins teilzunehmen.







Erstaunlich ist auch die Architektur der im Krieg fast völlig von Wehrmacht und Luftwaffe zerstörten Stadt. Auf rekonstruierenden Wiederaufbau mit künstlichen Altstadt-Fassaden hat man fast völlig verzichtet und so streben überall kühne Wahrzeichen moderner Architektur empor, die für mich eine besondere fotografische Herausforderung darstellten. Nur der Grundriss der Stadt blieb erhalten, und so befand sich mein Quartier-Boot in einem Becken des Alten Hafens. Jetzt drängte es mich zu einem Erkundungsgang.













Wollte ich noch einen Tag länger bleiben? Nein, die Zeit drängte und ich wartete nach einem Frühstückseinkauf nur ab, ob es nun regnen würde oder nicht – ach ich hasse es bei Regen zu fahren – und startete gegen 10 Uhr nordwärts, langsam die architektitetonischen Highlights hinter mir lassend und später dann entlang der Kanäle aus der Stadt heraus, mit immer niedriger werdenden Häuschen am Ufer.











Delt folgte als nächste bedeutende Stadt auf meiner Route. Das Delfter Blau wird auffallend gewürdigt – Läden mit unbezahlbarem Porzellan, ein modernes Gebäude in dieser Farbe, ein Kunstwerk u.s.w. Die Stadt wirkt wie eine kleine Kopie von Amsterdam, mit vielen mittelalterlichen Gebäuden. Am Markt die hoch aufragenden Nieuwe Kerk, für die mir aber der Eintritt zu hoch war. Aber auch wenn das Ticket mit für die Oude Kerk gegolten hätte – das war mir doch zu teuer und ich verzichtete. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich auch das Vermeer van Delft-Museum angesehen, dieser Renaissance Maler mit den raffinierten Perspektiven ist ja neben dem berühmten Blau das wichtigste Pfund mit dem diese Stadt touristisch wuchern kann.
(Apropos Zeitmangel: Wenn ich eine Radreise plane, dann muss ich vorher abschätzen, wieviel Zeit ich ungefähr für eine Strecke brauche. Denn ich habe für die Urlaubszeit eine Vertretung engagiert, die wissen muss, wann ich wieder zuhause bin. Das schließt Zugabfahrten am Ende mit ein.)












Weiter ging es Richtung Norden. In der hübschen und berühmten Universitätsstadt Leiden gönnte ich mir einen Eisbecher am Aaalmarkt, am Zusammenfluss zweier Rheinarme im Zentrum gelegen.










Aber es war schon relativ spät und ich wollte ja noch die Jugendherberge hinter Haarlem erreichen, was mir auch zum Abend gelang. Ich bekam zwar kein Einzelzimmer, aber ein fast leeres 8-Bett-Zimmer, in dem nur noch ein weiterer Gast nächtigte. Das Zimmer war heiß und stickig, die Sonne knallte den vorher ganzen Nachmittag auf die Fassade und das Fenster ließ sich kaum öffnen. An der Rezeption sagte man mir am nächsten Morgen (!), ich hätte mir ja einen Ventilator holen können. Schön, dass man das hinterher erfährt…
An dieser Stelle muss ich mal anmerken, dass Wildzelten in den Niederlanden nicht nur strafbewehrt verboten, sondern auch nahezu unmöglich ist, da es kaum uneinsehbare Winkel gibt. Alles, was man tut, kann von irgendwoher beobachtet werden. Und für die Niederländer ist das ganze Land so etwas wie der private Vorgarten…
Ich hatte nicht vor, durch Amsterdam zu fahren und querte westlich der Stadt mit einer Fähre den Nordseekanal. Am einem Poldermuseum legte ich ein Kaffee- und Eispause ein, später traf ich auf eine Windmühle neben dem Damm und stoppte neugierig, Der Windmüller winkte mich heran und bot mir an, mir Windmühle von innen zu zeigen. Was für eine nette Gelegenheit! Ich lernte, dass hier kein Korn gemahlen wird, sondern diese Mühlen dazu dienen, die unterhalb des Meeresspiegels liegenden Polder permanent zu entwässern und so das Weideland zu erhalten. Ich hatte herrlichen Rückenwind an diesem Tag. Das sollte sich bald ändern.













Irgendwann landete ich am großen Damm, der das Ijssel-Meer von der Nordsee trennt. Hier ist Radfahren verboten, aber – es gibt stündlich einen Bus für die Radfahrer. 26 km bis zum Inselchen Kornwerderzand, den Rest darf man dann wieder radeln. Ich fand dann den einsam liegenden günstigen Campingplatz „Hilarides“ für 9 € am Buitendijk. 116 km wurden es so, meine längste Etappe auf dieser Reise (durch die Busfahrt).




Jetzt war ich in Friesland. Westfriesland, müsste man korrekterweise sagen, um es vom deutschen Ost- und Nordfriesland zu unterscheiden. Die Architektur ländlicher Häuser unterscheidet sich zu Holland erkennbar. Pingjum war das erste Dorf mit einem historischen Brauhof, leider heute geschlossen. Ich kam an einer Raststätte für Radfahrer vorbei, ausgestattet mir einer Selbstbedienungssküche, Kaffee, Yoghurt im Kühlschrank – Vertrauenskasse. Und Toilette natürlich.
Das musste ich ausprobieren, also zweites Frühstück!







Als nächste größere Stadt kam Leeuwarden nach einer langen geraden Strecke mit Gegenwind, bei der ich die Altstadt in einem großen Bogen umrundete.











Weiter Richtung Groningen bis zu einem Campingplatz mit großer Wiese am Starkenborgkanaal. Denn wegen des zunehmenden Windes hatte ich keine Lust, in Leeuwaarden zu viel Zeit mit Besichtigungen zu vergeuden.
Mit ungutem Gefühl startete ich am anderen Morgen bei bereits frischem Ostwind und entschied, auf der anderen Seite des Van Starckenborg Kanaal zu fahren, in der Hoffnung auf etwas mehr Windschatten. Das schien auch erst einmal zu klappen. Erst einmal, aber dann gab es keine Bäume mehr, keine Büsche als Schutz, nichts. Zum Glück kam dann bald Groningen, eine Universitätsstadt, in der offenbar gerade ein studentisches Festival stattfand, was das Durchkommen erheblich erschwerte.
Ich stieg lieber ab und schob. Auch weil ich keine weiteren Konflikte mit oft sehr ungeduldigen unfreundlichen Radfahrern riskieren wollte, nur weil ich mich nicht schnell genug richtig orientieren konnte. Niederländische Radfahrer, besonders die E-Bike-Fahrer, haben sehr eigene Vorstellungen und verhalten sich wenig rücksichtsvoll gegenüber gepäckbeladenen ausländischen Radreisenden. Es herrscht eher das Recht des Stärkeren, Schnelleren …
Plötzlich sah ich eine interessante Eisbar. Es gab dort Eis-Kugeln verschiedenen Inhalts, serviert in heißer Milch, mit Sahne! Ich konnte nicht widerstehen und bestellte mir eine heiße Milche mit Orangeneis und genoss es während sich die Kugel langsam auflöste. Dann schob ich weiter, aber ich war natürlich noch nicht satt, wollte mich aber nicht noch irgendwo länger aufhalten, also sollte es eine Portion Pommes Frites sein – die dann doch zu groß für mich war… Egal. Weiter, raus aus der schönen, alten, aber zu vollen Stadt.














Jetzt wurde es richtig unangenehm mit dem Gegenwind. Die Strecke war zwar wenig befahren, aber immer wieder kamen E-Biker von hinten, die ich mit Wind in den Ohren nicht rechtzeitig hören konnte und rasten haarscharf knapp an mir vorbei. Ich sehnte mich nach dem hoffentlich nächsten Windschatten, während ich mit 10 – 12 km/h vor mich hin kämpfte, als ginge es ständig bergauf. Ich hatte kein Trinkwasser mehr und, da es nirgends einen Wasserhahn oder einen Laden gab, klingelte ich an irgendeinem Haus und ließ mir meine Trinkflasche mit Wasser füllen. Die Strecke nahm irgendwie kein Ende, aber schließlich erreichte ich mein Tagesziel: Scheemda. Ein schöner Campingplatz mit schattigen Buchten hinter Büschen und einem kleinen Badesee. Ganze 65 km waren es, die sich anfühlten als wären es über 100 gewesen. Todmüde baute ich mein Zelt auf. Gleich für 2 Nächte, denn wie die Wetter-App zeigte, würde zwar der Wind aufhören – aber ein Hitzetag mit Temperaturen bis 35°C stand bevor.




Da saß ich nun in der Hitze! Morgens schon in voller Sonne bis zum Nachmittag, erst dann hatte sich der Schatten zum Zelt hinbewegt. Ich sprang ein paar Mal in den Teich, was aber keinen längerfristigen Kühleffekt hatte. Aß eine Pizza im Platzrestaurant. Gab meine kühlbaren Lebensmittel dort in der Küche ab. Zog meine Iso-Matte in den Schatten, las, hörte Musik, Nachrichten. Döste vor mich hin und wurde vorgewarnt – für abends oder nachts wurden schwere Gewitter angekündigt!
Was dann passierte war mehr Theaterdonner als reale Gefahr – ein bisschen Krachen und ein heftiger Schauer. Das war alles, zum Glück. Denn wie ich am nächsten Tag sah, waren bis tief nach Niedersachsen hinein umgefallene Bäume und herabgerissene Äste zu sehen.
Das war jetzt am nächsten Morgen das letzte Stück Niederlande.




Und hinter Bad Nieuwschanz war ich plötzlich meiner Route folgend ohne ein Hinweisschild in
DEUTSCHLAND
– was ich aber erst 500 m nachträglich am Charlottenpolder bemerkte, weil die Verkehrsbeschilderung eindeutig darauf schließen ließ! Endlich konnte ich in Bünde wieder einen normalen deutschen Milchkaffee trinken und bei EDEKA einkaufen. Welcome home!
Und dann, hinter Weener, wies mich mein Routing zu einer gemischten Bahn/Radbrücke über die Ems. Aber da war keine Brücke … mehr. Die Friesenbrücke in Weener (Niedersachsen) wurde im Dezember 2015 durch einen Schiffsaufprall zerstört! Und tatsächlich sah man einen Kran, da wo mal eine Brücke war. (Inzwischen, 2025, wurde sie wieder für 200 Millionen € ersetzt, womit auch die direkte Bahnverbindung zwischen Bremen und Groningen wieder hergestellt werden kann.)
Na schön. 9 km Umweg zur nächsten Brücke bescherten mir nicht nur ein komplette Routenumplanung, sondern auch eine nette kleine Kirche nebenher zur Besichtigung hinter dem Deich.








Dann, bei Leer, über die Ems auf der Jan-Berghaus-Brücke und weiter, entlang an vielen von der Ems abführenden kleineren, aber immer noch schiffbaren Kanäle entlang kam ich mir immer noch wie in den Niederlanden vor – nur gab es deutlich weniger Radfahrer. Hinter Barßel hatte ich mir einen Campingplatz vorgemerkt, den ich abends nach 73 km erreichte. Idyllisch an einem richtigen See gelegen konnte ich endlich mal wieder eine richtig lange 500 m Strecke morgens schwimmen!
Inzwischen hatte ich längst entschieden, dass ich die Reise nicht erst in Hamburg, sondern bereits in Bremen beenden würde, nachdem ich abends tatsächlich einen netten Menschen bei der Deutschen Bahn telefonisch erreichte und mit seiner Hilfe eine ICE – und Fahrradplatz umbuchen konnte!









Jetzt waren es noch 87 km bis zum Ziel. Die Radwege wurden immer weniger. Das Kloster Hude tauchte auf, leider war es an dem Tag nicht zu besichtigen. Es ist Privateigentum. Eingezäunt und nur zu bestimmten Zeit gegen saftigen Eintritt geöffnet. Also weiter, erstmalig für mich durch Oldenburg, wo ich vergeblich versuchte einen Ersatz für meine morgens auf dem Campingplatz vergessene Trinkflasche zu kaufen, bis ich auf die simple Idee kam, einfach eine 1-Liter-Flasche Mineralwasser in den Flaschenhalter zu klemmen…







Dann, 8 km vor dem Ziel passierte es: Die Halterungsreparatur meiner Radtasche gab auf und ich musste wieder mal eine schnelle Notlösung finden. Mir fiel ein, dass ich in Bremen mal bei meinem halblegalen Westbesuch 1988 (aber das wäre jetzt eine andere Geschichte) als DDR-Bürger in einem Globetrotter-Laden war. Ich googelte und fand ihn, ein Stückchen weiter als früher und rief dort an, ob sie Ersatz hätten. „Haben wir. Beeilen Sie sich, wir schließen um 18 Uhr.“ Ich programmierte meinen Navi und erreichte den Laden gerade noch rechtzeitig und bekam eine freundliche Bedienung die das Problem im Handumdrehen löste.
Das war dann der Ersatz für eine ausführlichere Bremen-Erinnerungsrunde und mit der Fahrt zum Bahnhof endet der Bericht hier nach genau 1202 km. Eine meiner kürzeren Radreisen und soweit 52000 km insgesamt.



Und tschüss! Danke für’s Lesen!
Hier kannst du kommentieren, wie dir der Blog gefallen hat oder ob du Fragen hast.